Wir alle versichern uns des Lebens, unseres eigenen und auch dessen der jeweils anderen. Wir sichern und lassen versichern. Aber wir fühlen das nicht immer. Kunst ist eine Form von Lebensversicherung: an Grenzen gehen, Kontrollverlust zulassen, Innenwelten schaffen, Spannung aushalten, Glaubensstärke erfahren, Zerbrechlichkeit wahrnehmen, Müll abladen oder Schreien. Hemmungslos.
Die für die Ausstellung ausgewählten Künstlerinnern und Künstler aus Deutschland und der Schweiz spürten lebensversichernden Aktionen und Strategien in und mit unterschiedlichen Medien nach: farbstark oszillierende Malerei (Marco Schuler), somnambule Zeichnungen von Mischwesen und Vergänglichkeit (Annette Barcelo), von Energie und Erinnerung durchflossene Klanginstallationen (Léandre Thiévent, Deirdre O’Leary), Glaubens- und Bildtraditionen reflektierende Fotografien (Antal Thoma), an die Grenzen sinnlichen Geschmacks stoßende Videoperformances (Alexandra Meyer), natürlichen Zerfallsprozessen überlassene Dias (Janusz Czech) und eine ins Offene gestaltete installative Arbeit (Jürgen Oschwald).
LEBENSVERSICHERUNG
eine Ausstellung im Rahmen der Regionale 15 im Kunstlabor im E-Werk Freiburg
kuratiert von Marcel Oettrich und Yvonne Ziegler
28.11.2014 – 04.01.2015
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ANNETTE BARCELO
geb. 1943 in Basel, lebt in Basel
Annette Barcelos somnambule Zeichnungsserien auf gebrauchtem, bedrucktem oder collagiertem Papier sprechen von ersten und letzten Dingen. Sie entwirft einen existentiellen Lebenskosmos, in dem zwischen floralen oder geometrischen Mustern in vielfältiger Variation ihr Personal von Menschen, Mischwesen, Tieren, Masken und Totenschädeln auftaucht. In Schön ist die Welt liegt der Fokus auf fließenden Verbindungslinien zwischen schwarzweißen Figuren, während die farbstarke Serie Toros kraftstrotzenden Stieren gewidmet ist. Es geht um Fressen und Gefressen werden, um Liebe, Leben und Tod, um Innenwelten, Traum und Wirklichkeit, um Kopfgeburten, Animalisches, Abgründiges und Verdrängtes.
Schön ist die Welt, 2014, 18 Zeichnungen,
Mischtechnik auf Papier, je 32 x 40 cmToros, 2013, 24 Zeichnungen
Mischtechnik auf Papier, je 25 x 28 cm
Schön ist die Welt, 2014, Foto: Zoe Barcelo
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[nextpage title=“JÜRGEN OSCHWALD“]
JÜRGEN OSCHWALD
geb. 1969 in Löffingen, lebt in Freiburg
www.owald.com
Jürgen Oschwald malt, performt und schafft flüchtige Gebilde aus gebrauchten Materialien. Für Laboratorium verlegte er seinen Arbeitsplatz ins Kunstlabor und durchforschte das Haus nach entbehrlichen Gebrauchsgegenständen, um sie zu Werkelementen werden zu lassen, die ohne Einsatz von Werkzeug auf dem Boden, an der Wand oder in die Höhe gereckt aneinander lehnen, nebeneinander liegen, aufeinandergestapelt ruhen oder ineinandergekeilt stecken. Sein Raumexperiment vergegenwärtigt prekäre Lebenszustände zwischen Stabilität und Zusammenbruch, kraftvoller Spannung und labilem Gleichgewicht, tragender Verbindung und freiem Fall, wechselhaft und waghalsig wie das Leben selbst.
Laboratorium, 2014,
Installation, verschiedene Materialien
Ausschnitt aus Laboratorium, 2014
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[nextpage title=“JANUSZ CZECH“]
JANUSZ CZECH
geb. 1975 in Kedzierzyn, lebt in Karlsruhe
Janusz Czech fotografiert bevorzugt analog. Er entreißt unserer Gegenwart Wirklichkeitsfetzen, die er zu thematischen Serien reiht oder zu sprechenden Bildern aus unterschiedlichen Kontexten, Orten und Zeiten zusammenstellt. Memento Mori vergegenwärtigt die Unvollständigkeit und Unverfügbarkeit von Erinnerung. Dias von gesehenen Orten und Menschen überließ er natürlichen Veränderungsprozessen von Wetter und Humus, sodass sie sich wie Erinnerungen zu zersetzen begannen und nur noch als Fragmente verfügbar sind, im vorliegenden Fall: Portraits. In robuste Stahlrahmen gefasst halten seine Abzüge wiederum nur einen Moment dieses unablässig fortschreitenden Prozesses fest.
Memento Mori, 2009-2014,
Dia-Abzüge in Objekt-Stahlrahmen,
Auflage 3, je 70 x 50 cm
Memento Mori, 2014
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[nextpage title=“ALEXANDRA MEYER“]
ALEXANDRA MEYER
geb. 1984 in Winterthur, lebt in Basel
www.alexandrameyer.ch
Alexandra Meyers Videoperformances stoßen an die Grenzen sinnlichen Geschmacks. Mit irritierender Absurdität thematisieren sie menschliche Bezüge zu Nahrung, Raum und Nähe. In Kopf dekonstruiert Meyer ihr Ebenbild aus Schokolade scheinbar emotionslos durch Küssen, Anschmiegen, Beißen und In-sich-Aufnehmen. Eine Metapher für Narzissmus und Tod oder ein böser Seitenhieb auf den Selbstkannibalismus durch Diäten? Geschmacklos führt vor Augen, was künstliche Ernährung bedeutet: Genussfreie, basale Lebenserhaltung. Sich ohne medizinische Indikation dieser Prozedur zu unterziehen, sie als stilvoll angekündigtes Menü zu zelebrieren, zeigt die Nichtigkeit von Dekadenz auf. Am Ende muss es nur nahrhaft sein.
Kopf, 2012, Videoperformance, ohne Ton, 18:44 min., Auflage 6
Geschmacklos, 2012, Videoperformance, mit Ton, 3:25min., Auflage 6
Kopf, 2012
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[nextpage title=“DEIRDRE O’LEARY“]
DEIRDRE O’LEARY
geb. 1989 in Freiburg/CH, lebt in Basel
www.deirdreoleary.com
Wo Intimität auf Außenwelt trifft, beginnt Deirdre O’Learys künstlerische Arbeit. Auf ungewöhnlich feine Weise macht sie natürliche und gedankliche Formbildungsprozesse spürbar, in Kontakt mit Materie, Sprache, Schlaf und Realität. Auf dem Treppenabsatz, links spannt einen nonlinearen Erzählraum fremder Erinnerungspartikel auf, der munter fragil dahinplätschernd eigene Gedächtnisinhalte an die Oberfläche befördert. Das auf eine reflektierende Kupferplatte projizierte Video Gefroren zeigt, wie sich jemand vorsichtig tastend eines eisigen Untergrundes versichert. Im magischen Lichtspiel des Kupferschimmers tun sich verspielte Ungewissheiten auf.
Auf dem Treppenabsatz, links, 2014,
Audioinstallation mit GitarrenverstärkerGefroren, 2011, Videoinstallation, Super 8-Loop,
20. sek., Projektion auf Kupferplatte
Gefroren, 2011
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[nextpage title=“HANSJÖRG PALM“]
HANSJÖRG PALM
mit
CLEMENS BALDSZUN
LARS BIERMANN
FLORIAN KOCH
TOBIAS LANG und
ALFONSO LIPARDI
Hansjörg Palm, geb. 1959 in Vaihingen/Enz, lebt in Freiburg i. Br.
Hansjörg Palm auf Youtube
Jeder ist anders, zeichnet sich durch besondere Gaben, Eigenschaften und Fähigkeiten aus, besitzt kreatives Potential. Hansjörg Palms Performance HumbaTä … spielt mit dem Scheitern, das künstlerischem Handeln natur – gemäß innewohnt. In der Innenstadt präsentiert das Künstlerkollektiv einzeln, als Kleingruppe und zusammen verschiedene musikartige Darbietungen. Sie sind nur grob abgesprochen, entstehen aus dem Moment, ohne Können, mit unbekannten Instrumenten oder Äußerungsarten existentiell, expressiv und überraschend. Keiner ist Musiker, sie sind bildende Künstler. Durch ihr klingendes Tun entsteht eine Verbindung zwischen Performern und Publikum, sei es durch Zu- oder Abneigung.
HumbaTä …, Street-Mugge-Performance im öffentlichen Raum
Freiburg, Samstag 6. Dezember 2014 18-19 Uhr
in der Gerberau zwischen Martinstor und Augustinerplatz
HumbaTä …, Street-Mugge-Performance, 2014
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[nextpage title=“SIMON PFEFFEL“]
SIMON PFEFFEL
geb. 1985 in Nürnberg, lebt in Karlsruhe
www.simonpfeffel.com
Simon Pfeffel schafft mit wenigen Materialien Versuchsanordnungen, die Performer wie Betrachter gleichermaßen gegen den Drang ankämpfen lassen, die Situation aufzulösen. In Volition reibt er etwa sechs Minuten lang mit der rechten Hand über sein Gesicht, wodurch sich dieses verzerrt und rötet. Er bezeichnet dies als einen Akt der Selbstwahrnehmung am Übergang zum Kontrollverlust. In der Performance Volition #7 wird zwischen ihm und mehreren Mitakteuren eine spannungsgeladene Situation entstehen, die es zu erfahren und reflektieren gilt. Zwischenmenschliche Gefühle wie Einfühlung, Vertrauen und Gemeinschaft werden wachgerufen.
Volition, 2014, Video, 6:11 min.
Volition #7, Performance im öffentlichen Raum
Volition (Videostill), 2014 © Courtesy: Simon Pfeffel & Galerie Burster, Berlin
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[nextpage title=“MARCO SCHULER“]
MARCO SCHULER
geb. 1972 in Bühl, lebt im Markgräflerland
www.marcoschuler.net
In Marco Schulers Oeuvre steht der Mensch im Zentrum. So tauchen in Werken ganz unterschiedlicher Gattung immer wieder Augen, Kopfumrisse oder ganze Figuren auf und nicht selten ist der körperliche Einsatz der Werkentstehung spürbar. Eintauchbild zeigt einen jener wenigen von unzähligen Sprüngen ins Wasser, bei dem Schuler den richtigen Moment des Selbstauslösers traf. Hinter dem braven kleinbürgerlichen Gartenzaun von borderline wuchert eine beunruhigend dynamische Masse aus Farbmaterie, Buntheit und Blicken, während sich Schuler in Talismanic dem schonungslosen Blick der Kamera aussetzte, die seinen ungewissen Versuch filmte, ein eisernes Glückssymbol um den Hals zu legen.
Eintauchbild, 2001, Fotografie auf PVC-Plane, 217 x 116 cm
borderline, 2014, Öl auf Leinwand, 6-teilig, je 100 x 90 cm
Talismanic, 2010, Video, 6:18 min.
borderline, 2014, Foto: Jürgen Rösch
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[nextpage title=“LÉANDRE THIÉVENT“]
LÉANDRE THIÉVENT
geb. 1983 in Porrentruy, lebt in Basel
Léandre Thiévents oftmals ephemere Werke sind klar konzipiert, minimalistisch angeordnet und energetisch aufgeladen. Nichts weniger als die Präsenz von Körper, Geist und Seele, von Stofflichkeit und Raum, stehen im Zentrum. Oraison besteht aus vier gen Himmel gerichteten Aktivboxen, inspiriert von der Gegenwart und Stille eines Kirchenraumes, in dem der Glaubende betend eine Verbindung zu Gott sucht, einen Raum für sich, Gott und die anderen herstellt, Liebe findet. Psalmen, ein Konvolut unprätentiös von Hand abgeschriebener Psalmen, macht den Freudensquell eines jahrhundertealten sorgfältig behüteten und tradierten Vers- und Liedschatzes fassbar. Gesang und Gebet als Lebensversicherungen par excellence.
Oraison, Klanginstallation, 4 Aktivboxen
Psalmen, beschriebene Heftseiten
Psalmen, 2014
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[nextpage title=“ANTAL THOMA“]
ANTAL THOMA
geb. 1981 in Uster, lebt in Biel
www.antalthoma.ch
Antal Thoma inszeniert Menschheitsthemen, wie sie uns in Mythen, Märchen, Literatur und Geschichte überliefert wurden, in zeitgenössisch gesellschaftskritischer Sprache. Nicht selten besitzen sie eine barocke Opulenz, einen beißenden Witz und eine natürliche männliche Erotik. George de la Tours Gemälde Magdalena mit der Öllampe reinszenierte Thoma in Form einer nachdenklichen männlichen Figur, den treuen Hund zur Seite. In Dezember erkennt man einen an den Füßen Gekreuzigten, konterkariert durch Windel und Taucherbrille, im Stile neuerer Arten von Folterung durch körperliche ein, starkes Licht und sexuelle sowie religiöse Demütigung.
Magdalena mit der Öllampe, 2009, C-Print, Auflage 5, 128 x 79 cm
Dezember, 2008, C-Print, Auflage 5, 75 x 50 cm
Dezember, 2008
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